Gehirntheorie der Wirbeltiere

ISBN 978-3-00-064888-5

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

3.20  Die Bewegungserkennung im frühen olfaktorischen System

Im frühen Urhirn ermöglichten die Striosomen die Bewegungserkennung. Dies wurde im Kapitel 3.8 beschrieben.

Die Bewegungserkennung erfolgte durch die Bildung einer Differenzabbildung, bei der die (zeitverzögerten) Vergangenheitssignale die erregenden Gegenwartssignale im Thalamus hemmten.

Eine Signalart jedoch konnte in diesem System nicht direkt berücksichtigt werden. Olfaktorische Signale erreichten den Thalamus gar nicht, sondern traten in der obersten, cortikalen Etage (der Temporalschleife) in das frühe Urhirn ein. Daher musste für diese Signalart die Bewegungserkennung in einem separaten Teilsystem erfolgen. Dies begann bereits zu einer Zeit, als es das thalamische System (höchstwahrscheinlich) noch gar nicht gab.

Die Vorteile lagen auf der Hand: Bewegungen von Beute oder Fressfeinden konnten über Geruchssignale wahrgenommen werden, eine Erkennung der Veränderung der Signalstärke ermöglichte es, die Bewegungen von olfaktorisch wahrnehmbaren Objekten zu erkennen. Dies war ein bedeutender evolutionärer Vorteil!

Grundlage für die olfaktorische Bewegungserkennung war das dopaminerge Mittelwertzentrum, das sich in der siebten Etage des ursprünglichen Strickleitersystems befand, welches bilateral, also auf jeder Körperhälfte vorhanden war. Die Lage dort war insofern günstig, weil für Aktionspotentiale durch den relativ großen Abstand zur ersten Etage eine ausreichende Zeitverzögerung beim Durchlaufen dieser Strecke auftreten konnte.

Im Verlaufe der Evolution spaltete sich dieses dopaminerge Mittelwertzentrum in zwei Substrukturen, die unmittelbar nebeneinanderlagen. Die Substantia nigra pars compacta empfing die cortikalen Signale, während zur Area tegmentalis ventralis die olfaktorischen (und später limbischen) Signale zogen.

Theorem der Area tegmentalis ventralis (VTA)

Die Area tegmentalis ventralis ist der dopaminerge Mittelwertkern des olfaktorischen (und später limbischen) Systems. Ursprünglich könnte dieser Kern direkt in der olfaktorischen Etage angeordnet sein. Im Zuge der Konkurrenz der Mittelwertsysteme gleicher Transmitterzugehörigkeit untereinander blieb nur noch der dopaminerge Mittelwertkern auf der Ausgangsetage des frühen Urhirns, der siebenten Etage, übrig. Der Anteil, der die olfaktorischen Signale der ersten Etage des frühen Strickleitersystems auf Dopamin umschaltete, befand sich daher direkt neben der Substantia nigra pars compacta in der Nähe der Nucleus ruber und wird als Area tegmentalis ventralis bezeichnet.

Die Area tegmentalis ventralis empfängt vom Ausgangskern des olfaktorischen Systems, dem basalen (parvozellularen) Kern dessen Output. Und wie jedes Mittelwertsystem projiziert sie aktivierend zurück, aber auch in andere Teilsysteme.

Die dopaminerge Rückprojektion aus dem Mittelwertzentrum (welches sich im Verlaufe der Zeit in zwei Teile differenzierte), hatte schon in früher Urzeit hemmende, GABAerge Zielneuronen, die es ansteuerte. Im nichtlimbischen (cortikalen) System projizierte das dopaminerge System in die Striosomenneuronen. Sie gingen aus den hemmenden Interneuronen der cortikalen Etage hervor.

Im olfaktorischen System erfolgte eine analoge Entwicklung, nur viel früher. In der Amygdala gab es ebenso hemmende Interneuronen, die der lateralen Nachbarhemmung und somit der Kontrastverstärkung dienten. Diese Interneuronen wurden das Ziel der dopaminergen Rückprojektion. Sie verselbständigten sich und bildeten im Verlaufe der Evolution einen eigenen Subkern der Amygdala, den wir zentrale Amygdala bezeichnen. Sie besteht aus GABAergen Neuronen, die als Umschaltneuronen den dopaminergen Input aus der VTA empfangen. Sie besitzen die Dopaminrezeptoren D2 und werden daher von der VTA erregt.

Damit wird der gesamte Output des parvocellelaren basalen Kerns der Amygdala - des Ausgangskerns - über den Umweg der VTA in der zentralen Amygdala auf den hemmenden Transmitter GABA umgeschaltet. Wegen des längeren Umwegs weist dieser Output eine Zeitverzögerung auf. Damit bildet er den hemmenden Anteil einer zeitsensitiven Differenzabbildung in der Amygdala.

Der erregende Output zur Differenzabbildung entstammt direkt der Amygdala. Über den Eingangskern, die laterale Amygdala, erreicht er erregend die Neuronen im basalen Nebenkern. Genau dort trifft auch der hemmende Output der zentralen Amygdala ein. Punkt für Punkt wird das hemmende Vergangenheitssignal mit dem erregenden Gegenwartssignal überlagert und bildet das Differenzsignal. Damit sind die Neuronen im basalen Nebenkern (accessory basal Nucleus) die Differenzneuronen des Bewegungserkennungssystems.

Und wie im frühen Basalgangliensystem beruht die Bewegungserkennung neben der Zeitverzögerung vor allem auf den D2-Rezeptoren der hemmenden Umschaltneuronen - hier im zentralen Kern der Amygdala und dort in den Striosomenneuronen. Diese große Analogie zeigt, dass eine bewährte Lösung im Nervensystem mehrfach angewendet wird.

Noch erstaunlicher ist es, dass, wie oben kurz beschrieben, die aufsteigenden Axone aus der VTA zusätzlich zu den kontakten in der zentralen Amygdala auch die Neuronen des Striatums kontaktierten, nachdem sich diese Strukturen ausbilden konnten. Sie zogen aufsteigend direkt durch dieses Gebiet hindurch und kontaktierten dort ebenso eigene GABAergen Neuronen mit den D2-Rezeptoren. Diese projizierten jedoch nicht mehr zur Amygdala, sondern wie bisher direkt in den Thalamus, wo ebenfalls eine weitere Differenzabbildung möglich wurde, weil dieser ventrale Thalamus auch die absteigenden Signale der Olfaktorik empfing. So gab es zwei Systeme der Bewegungserkennung für olfaktorische (und später limbische) Signale. Allerdings ist zu beachten, dass sich das thalamische System sehr viel später etablierte.

Der Teil des Striatums, dessen Striosomenneuronen ausschließlich die olfaktorischen (und später die limbischen) Signale auf GABA umschaltete, separierte sich später und bildete ein eigenständiges Gebiet, welches als Nucleus accumbens bezeichnet wird. Die Unterscheidung des Striatums vom Nucleus accumbens liegt vorwiegend an der unterschiedlichen Signalherkunft, denn der neuronale Aufbau ist fast identisch.

Als sich in späterer Evolutionszeit auch D1-Rezeptoren im Nucleus accumbens und im Striatum bildeten, entstand im Striatum neben den Striosomen die Matrix. Im Nucleus accumbens dagegen bildeten die Neuronen mit D2-Rezeptoren den Kern (Core), während diejenigen mit D1-Rezeptoren die Schale (Shell) herausbildeten. Damit unterschieden sich das Striatum und der Nucleus accumbens doch noch hinsichtlich des cytoarchitektonischen Aufbaus.

Theorem des Kerns des Nucleus accumbens

Der Kern (Core) des Nucleus accumbens empfängt den Output der basalen (parvozellularen) Amygdala, der in der VTA auf Dopamin umgeschaltet wurde. Seine GABAergen Neuronen besitzen den Dopaminrezeptor D2 und werden von diesen Signalen erregt. Daher ist dieser Kern ein Umschaltkern von Dopamin auf GABA. Auf dem dopaminergen Umweg erleiden die Signale eine Zeitverzögerung. Sein Output hemmt im Thalamus genau die Neuronen, die die gleichen Signale ohne Transmitterumschaltung direkt von der basalen (parvozellularen) Amygdala erhalten. So entsteht im Thalamus eine zeitsensitive Differenzabbildung, die in der Frühzeit die Veränderungen olfaktorischer Signale und damit die Bewegung olfaktorisch wahrgenommener Objekte realisiert.

Damit verfügt das Gehirn über zwei Systeme zur Bewegungserkennung olfaktorisch wahrnehmbarer Objekte.

Theorem der Bewegungserkennung im frühen olfaktorischen System

Die Bewegungserkennung für olfaktorisch wahrnehmbare Objekte erfolge durch eine Differenzabbildung, bei der hemmende Vergangenheitssignale und erregende Gegenwartssignale in Differenzneuronen überlagert wurden.

Die Ausgangssignale der lateralen Amygdala erreichten einerseits über die basale Amygdala die dopaminerge VTA, wo sie auf Dopamin umgeschaltet wurden und zeitverzögert zur zentralen Amygdala zurückkehrten, um dort GABAerge Umschaltneuronen zu erregen. Diese stellten die zeitverzögerte und hemmende Komponente den Differenzneuronen im basalen Nebenkern der Amygdala zur Verfügung. Die erregende Komponente erreicht diese Differenzneuronen von der lateralen Amygdala über die basale Amygdala.

Damit entstand in der Amygdala eine zeitsensitive Differenzabbildung zur Bewegungserkennung olfaktorisch wahrnehmbarer Objekte.

Nach Ausbildung des thalamischen Systems und des Striatums im Verlaufe der Evolution erreichten die dopaminergen Signale der VTA ebenfalls das Striatum, führten dort zur Bildung des Nucleus accumbens und konnten im Thalamus zur Bildung einer weiteren Differenzabbildung olfaktorischer (und später limbischer) Signale beitragen, weil diese Signale absteigend auch die vom Striatum kontaktierten Thalamusgebiete erreichten.

Damit verfügte das Lebewesen über zwei Systeme zur Bewegungserkennung im olfaktorischen bzw. limbischer Signale.

Im Verlauf der Evolution sollte sich das olfaktorische System weiterentwickeln und neue Strukturen hervorbringen, die in dieser Monografie in den zuständigen Kapiteln behandelt werden.


Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan