Gehirntheorie der Wirbeltiere

ISBN 978-3-00-064888-5

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

3.21 Die Bewegungsanalyse in der Amygdala für komplementäre Signalklassen vom On-Off-Typ

Die in diesem und den folgenden Kapiteln aufgezeigten Wirkprinzipien der Amygdala und des limbischen Systems beruhen im Wesentlichen auf den Strukturuntersuchungen, die in den Veröffentlichungen von Asla Pitkänen und Maria Pikkarainen über die Projektionswege der verschiedenen Amygdalakerne in [71] und [72], aber auch den Arbeiten von Aggleton [76] und Saunders zur Amygdala zu finden sind. Ohne diese Vorarbeiten wäre die Beschreibung der vermutlichen Arbeitsweise der neuronalen Schaltung der Amygdala und ihrer Subkerne in dieser Monografie niemals möglich gewesen.

Eine wichtige frühe Analysenform der Bilateria, der Chordata und der Wirbeltiere bestand in der Bewegungsanalyse. Bewegungen konnten beispielsweise gesehen, gerochen oder auch gehört werden.

Warum war die Bewegungserkennung so wichtig?

Mit der Entwicklung der verschiedensten Mundwerkzeuge - beginnend etwa bei der Raspelzunge, verfeinert durch die Umwandlung von Kiemen zu Kiefern und der Nutzung tierischer Kost gab es eine neue Gefahr: den Fressfeind. Tiere wurden selbst zur Beute.

Beutetiere und Fressfeinde konnten sich aktiv bewegen. Wer Bewegungen sah, roch, hörte, ertastete oder gar elektrosensorisch erkannte, war klar im Vorteil. Er fand seine Beute einfacher und konnte Fressfeinden ausweichen.

Eine Voraussetzung war die Erschaffung eines Abbildes der Umwelt. Rezeptoren bildeten Flächen - etwa die Netzhaut des Auges, oder die Tastrezeptoren der Körperoberfläche, aber auch die Riechfläche der Nasenschleimhaut - und die Erregungen dieser Rezeptoren erschufen in dieser Fläche ein Signalabbild der Umwelt. Dieses Signalabbild wurde über verschiedene - vorwiegend geometrisch wirkende - Transformationen direkt zu den vorhandenen Körperabbildungen des Neuralrohrs und des Cortex übertragen und konnte mit diesen wechselwirken. Insbesondere konnte es auf das Körperabbild der Muskelspindelsignale einwirken und geeignete Bewegungen auslösen. Beute konnte erkannt und gefressen werden, Fressfeinden konnte man ausweichen.

Die erstellten Abbildungen der Umwelt konnten ihrerseits Abbildungen der unterschiedlichsten Objekte beinhalten. Die Erkennung einer Bewegung dieser Objekte erforderte zwei Abbildungen, deren Erstellungszeit sich voneinander unterschied. Vereinte man beide Abbildungen in einer Differenzabbildung, wobei die Signale der einen Abbildung erregend, die der anderen jedoch hemmend waren, so verschwanden im Differenzbild alle unbewegten Objekte. Die Objekte, die sich zwischenzeitlich bewegt hatten, blieben übrig. Die Differenzsignale und ihre Stärke waren ein Maß für die Stärke der Bewegung hinsichtlich der Objektgröße und der Objektgeschwindigkeit. In der Amygdala wurden solche Differenzabbildungen erzeugt. Die Bildung von bewegungserkennenden Differenzabbildungen für analoge Signale wurde bereits beschrieben.

Es würde den Rahmen dieser Monografie sprengen, wenn wir sämtliche Arten von bewegungserkennenden Differenzabbildungen in der Amygdala analysieren würden. Wir beschränken uns hier auf die Differenzabbildung im visuellen Bereich, die es erlaubte, Bewegungen von visuellen Objekten zu erkennen. Eine Grundvoraussetzung dafür wurde durch das frühe Strickleitersystem geschaffen, welches beidseitig im Körper vorhanden war. Die visuelle Differenzabbildung in der Amygdala war daher zunächst monokular.

Wie bereits im Kapitel 3.13. erläutert, kam es im visuellen System zur Entwicklung von komplementären Signalklassen, bei denen die eine Signalklasse vom On-Typ war, die andere dagegen vom Off-Typ. Grund war die Signalinversion an den Bandsynapsen der zuständigen Retinarezeptoren.

Das Amygdalasystem konnte recht früh die visuelle Bewegungserkennung sowohl für die visuellen On-Signale als auch für die Off-Signale realisieren.

Dazu wurden beide Signalklassen zunächst von der Amygdala zum dopaminergen Mittelwertzentrum geschickt, welches hier die Area tegmentalis centralis war. Dort erfolgte die Umschaltung auf Dopamin. Die Rückprojektion in Richtung Signalherkunft endete an den GABAergen Neuronen der zentralen Amygdala. Wie bei den Matrixneuronen besaßen diese den Dopaminrezeptor D2, so dass es in der zentralen Amygdala eine Neuronenpopulation GABAerger Neuronen gab, die von den dopaminergen Signalen gehemmt wurden.

Eine Resterregung blieb nur deshalb übrig, weil diese Neuronen eine tonische Erregung vom Mittelwertkern der Amygdala, also vom magnocellularen Kern der Amygdala empfingen. Die Hemmung dieser Mittelwerterregung bewirkte eine Signalinversion. Daher wurde diese Population von Neuronen zu Inversionsneuronen.

Durch die Signalinversion wurde aus jedem On-Signal ein Off-Signal. Es war nun hemmend. So konnte es die hemmende Komponente der zeitsensitiven Differenzabbildung werden. Es erreichte den basalen Nebenkern der Amygdala und dockte dort in einer Punkt-zu-Punkt-Projektion an die dortigen Differenzneuronen an.

Das erregende Off-Signal der Retina erreichte über die laterale Amygdala und die basale Amygdala auch den Ausgangskern, den basalen Nebenkern der Amygdala und endete auch in einer Punkt-zu-Punkt-Verbindung an den zugehörigen Differenzneuronen. So entstand für den Off-Signaltyp die zeitsensitive Differenzabbildung, welche z. B. die Bewegung von dunklen Objekten erkannte.

Für das Off-Signal der Retina galt analog das gleiche. Es wurde zeitverzögert und in den On-Signaltyp überführt, der ebenfalls hemmend war. Der erregende Originaloutput der Retina wurde im basalen Nebenkern der Amygdala mit dem hemmenden On-Signal überlagert und erzeugte so eine zeitsensitive Differenzabbildung, welche z. B. die Bewegung der hellen Objekte erkannte.

Bestand das On-Off-Signal dagegen aus dem Farbsignal Rot+/Grün- und das Off-Signal aus dem dazu komplementären Signal Rot-/Grün+, so konnte die Bewegung von roten und grünen Objekten erkannt werden, und zwar unabhängig voneinander.

Damit konnte die Amygdala die Bewegungen von Objekten analysieren, deren Abbilder von allen visuellen Rezeptoren geliefert wurden, die vom On-Off-Typ waren.

Benötigt wurde dafür ein Verzögerungs- und Umschaltkern, hier die VTA. Weiterhin wurde ein Mittelwertkern benötigt, in der Amygdala war dies der magnocellulare basale Kern. Ebenso wurde ein Inversionskern benötigt, dieser war der zentrale Kern der Amygdala. Letztendlich wurde auch ein Differenzkern für die Differenzabbildung nötig, dieser wurde vom basalen Nebenkern der Amygdala gestellt.

Theorem des basalen Nebenkerns der Amygdala

Der basale Nebenkern der Amygdala ist ein Abkömmling des basalen Kerns. Er besteht aus erregenden Projektionsneuronen. Der erregende Input stammt vom Eingangskern der Amygdala, der im lateralen Kern eintrifft und über die basale Amygdala den basalen Nebenkern erreicht. Auf seinem Weg durch die basale Amygdala wird er in die Mittelwertbildung des magnozellularen basalen Kerns einbezogen.

Der hemmende Input erreicht diesen Kern aus zwei Quellen. Sowohl die zentrale Amygdala als auch die mediale Amygdala projizieren hemmend in den basalen Nebenkern. Der basale Nebenkern der Amygdala ist der Differenzkern des Amygdalasystems und dient der Bildung von Differenzabbildungen der verschiedenen Modalitäten und somit der Bewegungs- und Veränderungserkennung.

Der Output dieses Kerns ist erregend und enthält im frühen Stadium der Amygdala unter anderem die optische monokulare Differenzabbildung der visuellen On-Off-Signale (Helligkeit/Farbe) in topologisch wohlgeordneter Form.

Theorem der Bewegungsanalyse in der Amygdala für On-Off-Signale

Liegt eine Signalart in der On-Off-Variante vor, so erfolgt die Bildung einer zeitsensitiven Differenzabbildung zur Bewegungserkennung für diese Modalität in der Amygdala durch die Beteiligung der VTA, der zentralen Amygdala, des magnocellularen Kerns der Amygdala und des basalen Nebenkerns der Amygdala.

Zunächst erfolgt die Signalprojektion von der lateralen Amygdala einerseits zur basalen Amygdala und andererseits zum basalen Nebenkern der Amygdala, in beiden lagen die Signale in der erregenden Form vor.

Von der basalen Amygdala erfolgt eine Punkt-zu-Punkt-Projektion zur VTA. In einer Neuronenschicht kommen die On-Signale an, in der benachbarten die Off-Signale. Die Retinotopie bleibt dabei erhalten.

DieVTA wirkt als Verzögerungs- und Umschaltkern. Nach Umschaltung auf Dopamin erfolgt eine hemmende Projektion in den zentralen Kern der Amygdala, die Off-Signale kontaktieren eine Schicht hemmender Neuronen, die On-Signale ebenfalls. Auch hier bleibt die Retinotopie erhalten.

Die Neuronen werden von den dopaminergen Signalen der VTA gehemmt, denn sie besitzen - wie die Matrix des Striatums - den Dopaminrezeptor D2.

Zusätzlich erhalten diese Neuronen eine tonische Mittelwerterregung aus dem magnocellularen basalen Kern der Amygdala. Dies führt zur Signalinversion.

Aus dem On-Signal wird ein Off-Signal, aus dem Off-Signal dagegen ein On-Signal. Beide Typen sind hemmend und bilden die hemmende und zeitverzögerte Komponente der Differenzabbildung, die im basalen Nebenkern der Amygdala entsteht. Dort überlagert sich typrichtig jeweils das hemmende On-Signal aus der zentralen Amygdala mit dem erregenden On-Signal aus der Retina, so dass alle bewegten Objekte vom Signaltyp On übrigbleiben. Ebenso überlagert sich typrichtig jeweils das hemmende Off-Signal aus der zentralen Amygdala mit dem erregenden Off-Signal aus der Retina, so dass alle bewegten Objekte vom Signaltyp Off übrigbleiben. Alle Abbildungen sind topologietreue 1:1-Abbildungen der Netzhautsignale.

Unbewegte Objekte heben sich in der Differenzabbildung auf und sind unsichtbar.

Da sowohl die Helligkeitssignale als auch die Farbsignale des Kanals Rot/Grün in einer On- und Off-Variante vorliegen, kann die Amygdala die Bewegung von hellen, dunklen, roten und grünen Objekten detektieren. In den Differenzabbildungen sind die Outputneuronen (im Prinzip) genau dort aktiv, wo eine Bewegung visuell wahrgenommen wurde. Der Output steuert die ihm zugeordneten Motoneuronen an und bewirkt motorische Reaktionen auf visuell wahrgenommene Bewegungen.

Der Output der Amygdala erreichte den Hippocampus und nahm dort an der Signalrotation teil. Dadurch standen die Abbilder alle neu erkannten Objekte dauerhaft zur Verfügung, da sie solange in der limbischen Schleife rotierten, bis neue Objekte sie löschten oder Löschbefehle extern von zeitlichen Taktgebern oder anderen Systemen die Amygdala erreichten und die Signalrotation unterbrachen.

Da die aufsteigenden Signale der VTA nicht nur die Amygdala erreichten, sondern (über Kollateralen) ebenso den Nucleus accumbens kontaktierten, fanden sie Eingang in das Basalgangliensystem. Sie wurden ebenso behandelt wie es in Kapitel 3.13. beschrieben wurde. Letztlich entstand im Thalamus ebenso eine Differenzabbildung für diese Signalklassen.

Theorem der Weitergabe der On-Off-Differenzabbildungen der Amygdala an den ventralen Thalamus

Die von der Amygdala zur VTA gesandten Signale der On-Off-Signalarten erreichten von dort auch den Nucleus accumbens. Sie endeten an GABAergen Neuronen der Schale (Shell), die den Dopaminrezeptor D1 verwendeten und von Dopamin gehemmt wurden. Da sie zusätzlich von der Substantia nigra pars compacta und vor allem vom Nucleus subthalamicus tonische Dauersignale empfingen, wirkten sie als Inversionsneuronen. Die invertierten Signale waren hemmend und erreichten den (ventralen) Thalamus, wo sie typrichtig mit den gleichen Signalen überlagert wurden, die diesen Thalamus absteigend von der Amygdala erreichten. So war eine typrichtige Differenzabbildung möglich, in der Bewegungen derjenigen Objekte sichtbar wurden, die diesen Signalarten zugeordnet waren. Die Differenzabbildung erreichte über den Thalamus den Cortex und konnte dort einer weiteren Auswertung zugeführt werden.

Es gab aber einen gewaltigen Unterschied. Im Thalamus existierten diese Signale nur kurzzeitig, nur für den Moment der Bewegung der detektierten Objekte. Im limbischen System erreichte der kurzzeitige Output den Hippocampus und begann eine Signalrotation, quasi im Unterbewusstsein. Sie erinnerte latent an die Gefahr des Fressfeindes oder an die Anziehungskraft des Futters.

Diese Signalrotation war für visuelle Signale, besonders für farbige Signale, von gewisser Bedeutung. Das Bild verschwand nicht, wenn man die Augen schloss. Dann konnten diese limbischen Signale im Thalamus nicht von den gerade eintreffenden Signalen der Retina durch laterale Nachbarhemmung unterdrückt werden, denn die Augen waren ja gerade geschlossen worden.

Aber auch andere Signale blieben durch die Signalrotation quasi im Unterbewusstsein präsent und waren indirekt gegenwärtig. Das limbische Rotationssystem hielt sie im Unterbewusstsein am Leben.

Die in der limbischen Schleife rotierenden Signale - die ja ebenfalls retinotop geordnet sind - erreichen über den Nucleus accumbens letztlich den (visuellen) Thalamus und erzeugen sogenannte Nachbilder bei geschlossenen Augen.


Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan