Gehirntheorie der Wirbeltiere

ISBN 978-3-00-064888-5

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

3.3  Die Spezialisierung der Kopfsegmente und ihre Verschmelzung


Wir unterteilen den Körper derjenigen segmentierten Bilateria, deren Linie zu den Wirbeltieren führte, in einen Rumpfbereich und einen Kopfbereich. Zum Kopfbereich gehören eine gewisse Anzahl der kranial liegenden Segmente. Bei heute lebenden segmentierten Tieren besteht der Kopfbereich aus ungefähr vier bis sieben Segmenten, je nach Art. Das Besondere besteht darin, dass die vor dem eigentlichen Mundbereich liegenden Segmente teils miteinander verschmolzen sind.

Bedingt durch den leiterartigen Aufbau des Nervensystems und die aufsteigenden Projektionen im sensorischen Leiterholm stand in jedem Segment nicht nur die Erregung zur Verfügung, die die Rezeptoren dieses Segments ins sensorische Zentrum übertrugen, sondern auch die Signale sämtlicher Rezeptoren, die in den tieferliegenden, schwanzseitigen Segmenten gewonnen wurden. Zwischen all diesen Signalen konnte durch hemmende Interneuronen eine laterale Hemmung auftreten. Dadurch standen nicht nur die linke und die rechte Körperhälfte in neuronaler Konkurrenz zueinander, sondern auch die einzelnen Segmente. Dies führte bei den voneinander abhängigen Rezeptoren zu einer besonderen Entwicklung. 

Theorem der neuronalen Konkurrenz der Segmente untereinander

Da in jedem Segment die Signale aller nachgeordneten Segmente zur Verfügung standen und über die laterale Hemmung im jeweiligen neuronalen Kern die stärkeren Signale die schwächeren hemmten und es auf jeder Segmentebene die kontralaterale Hemmung der einander entsprechenden neuronalen Kerne gab, standen alle Segmente des Körpers in neuronaler Konkurrenz zueinander.

Die Rezeptoren der verschiedenen Segmente lassen sich bezüglich ihrer Modalität in zwei Gruppen einteilen. Abhängige Rezeptoren liefern in jedem Segment in etwa das gleiche Signal. Bezogen auf einen längeren Zeitraum unterscheiden sich die Signale von abhängigen Rezeptoren (statistisch gesehen) nur sehr wenig. Beispielsweise können Duftrezeptoren einen gleichmäßig im Wasser verteilten Duft in jedem Segment des Körpers etwa gleichstark detektieren. Derartige Rezeptoren nennen wir abhängige Rezeptoren (in Analogie zu linear abhängigen Vektoren). Liefern dagegen die Rezeptoren einer Rezeptorenart in jedem Segment voneinander unabhängige Signalwerte, weil etwa die Muskelspannung der Muskeln in verschiedenen Segmenten (meist) unterschiedlich ist, so bezeichnen wir diese Rezeptoren als unabhängig.

Im Verlaufe der Evolution trat eine Spezialisierung der abhängigen Rezeptoren der verschiedenen Segmente auf. Hatte eine Rezeptorenart in einem Segment eine überdurchschnittliche Anzahl von Rezeptoren hervorgebracht, so konnte sich dieses Segment auf die von dieser Rezeptorenart detektierte Reizart (Modalität) spezialisieren. Denn die Signale dieses Segments waren im Vergleich zu den Signalen aus den übrigen Segmenten der gleichen Rezeptorenart deutlich stärker. Sie unterdrückten die gleichartigen Signale der anderen Segmente, die über Neuronen der Klasse 4 dieses Segment erreichten und deaktivierten sie über die laterale Nachbarhemmung dauerhaft. Dies führt zur Rückbildung dieser Rezeptorenart in den übrigen Segmenten. Damit spezialisierte sich dieses Segment auf eine bestimmte Rezeptorenart.

Möglich war allerdings auch, dass in einem Segment mehrere Rezeptorenarten gleichzeitig dominierten gegenüber den gleichen Rezeptoren anderer Segmente.

Für die unabhängigen Rezeptoren konnte eine solche Entwicklung nicht stattfinden, da die laterale Nachbarhemmung nur teilweise auftrat und es bei jedem Rezeptor in jedem Segment hinreichende Phasen gab, in denen wegen fehlender Nachbarsignale keine laterale Hemmung auftrat.

Zu den abhängigen Rezeptoren zählen wir die olfaktorischen Rezeptoren, die Rezeptoren des Gleichgewichtssinns, die Sehrezeptoren, die Geschmacksrezeptoren. Diese Rezeptorenarten konzentrierten sich im Verlaufe der Evolution auf Einzelsegmente. Dies trat bevorzugt in den Segmenten auf, die wir zum Kopfbereich zählen. Dort war die laterale Hemmung am wirksamsten, und nur dort standen die Signale des gesamten Körpers zur Verfügung.

Zu den unabhängigen Rezeptoren zählen wir die des Seitenliniensinns, die Muskelspannungsrezeptoren (anfangs freie Nervenendigungen, später Muskelspindeln), die Rezeptoren der Sehnenorgane sowie die des Tast- und Schmerzsinnes. Nicht klassifiziert sind hier die Rezeptoren des animalischen Systems.

Damit ergab sich eine Zweiteilung der Rezeptoren: In Kopfbereich gewannen die abhängigen Rezeptoren über die laterale Hemmung die Vorherrschaft und führten zur Spezialisierung der Kopfsegmente auf unterschiedliche Rezeptorarten.

Theorem der sensorischen Spezialisierung der Kopfsegmente 

Die neuronale Konkurrenz der Rezeptorsignale der verschiedenen Segmente untereinander führte dazu, dass abhängige Rezeptoren letztlich nur noch in einem einzelnen Kopfsegment repräsentiert wurden. Daher spezialisierten sich die verschiedenen Kopfsegmente auf die Wahrnehmung von Reizen verschiedener Modalitäten. Damit wurde jede Modalität im Kopfbereich nur noch in einem Segment verarbeitet, auch wenn ein Kopfsegment durchaus auch für mehrere Modalitäten zuständig sein konnte.

Anfänglich verfügten alle Segmente über die gleiche Ausstattung mit Organen, lediglich das Verdauungssystem, der Blutkreislauf und das Nervensystem wurden gemeinsam genutzt.

Da die Organe jedoch über die Mittelwertzentren mit Nervensignalen angesteuert wurden, kam es durch die neuronale Konkurrenz der Segmente auch hier zu einer Reduzierung, so dass im Verlaufe der Evolution nicht mehr jedes Organ in jedem Segment vorhanden war, sondern nur noch einmal pro Körperhälfte. Hierbei konnte es möglicherweise wegen seiner zunehmenden Größe die Segmentgrenzen überwinden. Denn wurde wegen der neuronalen Signalkonkurrenz zwischen den Segmenten ein Organ in einem bestimmten Segment nicht mehr ausreichend mit Inputsignalen versorgt, führte dies zur Reduktion seiner Größe und letztlich zur Zurückbildung. Daher wurde der anfänglich völlig identische Segmentaufbau im Verlaufe der längeren Evolutionszeit aufgegeben und die Segmente differenzierten sich und teilten die Aufgaben unter sich auf. Ein Beispiel für die Rückbildung eines Organs ist die nervale Atrophie. Wird ein Nerv geschädigt, der einen Muskel versorgt, so atrophiert dieser nicht mehr versorgte Muskel. Analog können wir uns die Rückbildung von Organen vorstellen, die anfänglich in jedem Körpersegment vorhanden waren. Durch die laterale Hemmung der versorgenden Nerven in den neuronalen Zentren trat eine Konkurrenz unter diesen Organen auf, in deren Folge einzelne Segmente weniger stark innerviert wurden, was die laterale Hemmung noch weiter beschleunigte. So bildeten sich nach und nach Organe zurück, bis diese Organart nur noch in einem Segment übrigblieb und dort konkurrenzlos war.

Wenn diese im Verlauf der Evolution schrittweise erfolgende Veränderung in der DNA protokolliert und an die Nachfahren weitervererbt wurde, gab es keine Mehrfachorgane mehr (mit Ausnahme derer, die wegen der Bilateralität in einem Segment auf jeder Körperseite auftraten. Voraussetzung für eine solche Entwicklung war natürlich die Existenz hemmender Interneuronen, die die laterale Nachbarhemmung realisierten.

Theorem der sukzessiven Organrückbildung bei Mehrfachorganen

Die laterale neuronale Hemmung bewirkte die Konkurrenz derjenigen Organe, die in der Anfangsphase der segmentierten Tiere in (fast) jedem Segment vorhanden waren. Dies führte zur Reduktion der Anzahl dieser Organe, so dass sie letztlich nur noch in einem Segment übrigblieben.

In späterer Evolutionszeit kam es zur Zusammenlegung der verschiedenen sensorischen und motorischen Zentren des Kopfbereiches, diese Entwicklung bezeichnen wir als die Verschmelzung der Kopfsegmente.

Es ist davon auszugehen, dass die laterale Hemmung in den neuronalen Zentren nicht bei allen segmentierten Bilateria in gleichem Umfang herausgebildet wurde. Es gab unter ihnen gewiss auch Tierarten, bei denen die Signalreichweite auf den afferenten bzw. efferenten Projektionsneuronen der Klassen 4 und 5 gering war, etwa weil sie über kein Myelin verfügten. Dann konnten in den neuronalen Zentren die Signale der weiter entfernten Segmente gar nicht ankommen, um dort eine laterale Hemmung zu bewirken. Ebenso war es möglich, dass verschiedene segmentierte Bilateriaarten gar keine oder zu wenige hemmenden Interneuronen in ihren neuronalen Zentren entwickelten, so dass dort ebenfalls keine ausreichende laterale Hemmung zustande kam. Diese Tierarten konnten ihre in jedem Segment befindlichen Organe gar nicht sukzessive zurückbilden, da es keine neuronale Konkurrenz unter ihnen gab. Bei ihnen blieben dieser Organe in allen Segmenten (evtl. mit Ausnahme des Kopf- und Schwanzsegments) erhalten. Tatsächlich ist dieser urtümliche Aufbau aus fast identischen Segmenten bei einer Reihe von Tieren bis zum heutigen Tage erhalten geblieben (z. B. bei Würmern). Bei Insekten dagegen trat die beschriebene Zurückbildung von Mehrfachorganen und eine Spezialisierung der Segmente auf, die wir ebenfalls noch heute beobachten können. Daher tritt dieses Phänomen der sukzessiven Rückbildung von Mehrfachorganen nicht nur bei den segmentierten Bilateria auf, deren Linien zu den Wirbeltieren führen, sondern lässt sich bei vielen Tierarten beobachten.

Wir gehen davon aus, dass (bezogen auf die späteren Wirbeltiere) im Zuge der Spezialisierung der verschiedenen Kopfsegmente auf verschiedene Modalitäten die Neuronen der Klasse 3 in jedem Kopfsegment letztlich nur noch Signale derjenigen Modalität zur motorischen Seite des Strickleitersystems weiterleiteten, auf die sich dieses Kopfsegment spezialisiert hatte. Dieses war die ökonomischere Variante. Sie war eine Voraussetzung dafür, dass sich später im Zuge der Verschmelzung der Kopfsegmente die thalamischen Strukturen ebenfalls auf ausgewählte Modalitäten spezialisieren konnten.

Im Zuge der Spezialisierung kam es daher dazu, dass die sensorischen Zentren der verschiedenen Kopfsegmente für unterschiedliche Modalitäten zuständig wurden. Eine motorische Spezialisierung der verschiedenen Kopfsegmente auf unterschiedlichste Funktionen erfolgte parallel dazu. Aus den sensorischen und motorischen Zentren der Kopfsegmente gingen später die Nervenkerne des Gehirns hervor. Alle Wirbeltiere besitzen zwölf Hirnnerven. In dem hier beschriebenen frühen Stadium der Entwicklung waren jedoch noch nicht alle Spezifikationen des künftigen Wirbeltierkörpers ausgebildet, so gab es noch kein Kopfskelett, keine Kiefern, ebenso keine Kaumuskulatur usw. Daher fehlten etliche der späteren Hirnnerven auf dieser frühen Stufe der Entwicklung. Das Vorhandensein von 12 Hirnnerven bei Wirbeltieren ließe jedoch den Schluss zu, es könnte möglicherweise 12 Ursegmente gegeben haben, die als Kopfsegmente dienten. Allerdings ist es wahrscheinlicher, dass einige Kopfsegmente mehrere Modalitäten hervorgebracht haben, so dass ihre Gesamtanzahl kleiner als 12 wäre.

Aus den sensorischen und motorischen Zentren des Rumpfes gingen bei den Wirbeltieren die Spinalganglien hervor.

Theorem der Spezialisierung des ersten Segmentes auf die Olfaktorik

Das erste Segment - also das Kopfsegment - übernimmt die Führung bei den olfaktorischen Rezeptoren. Die Signale der direkt vor dem Mundbereich gelegenen olfaktorischen Rezeptoren im ersten Segment waren am stärksten, sie unterdrücken über die laterale Hemmung die olfaktorischen Signale in den übrigen Segmenten, so dass die dortigen olfaktorischen Rezeptoren sich zurückbilden und letztlich verschwanden.

Das Mittelwertzentrum des ersten Segments entwickelte sich zu einem neuronalen Kern, der als Septum bezeichnet wird. Es erhält vornehmlich olfaktorische Signale des ersten Segmentes sowie aufsteigende Signale des zweiten Segmentes. Dieser Mittelwertkern diente anfänglich der motorischen Aktivierung und verwendete daher den Transmitter Acetylcholin, der in der Muskelplatte die Kontraktion bewirkt. Den absteigenden, motorischen Signalen wurde die zusätzliche Aktivierung des (anfänglich) olfaktorischen Mittelwertzentrums aufgeprägt, Duftsignale verstärkten daher motorische Aktivitäten.

Die starke Entwicklung verschiedenster olfaktorischer Rezeptoren im Kopfsegment zog die Reduzierung anderer sensorischer Rezeptoren nach sich, so dass das Kopfsegment sich auf die Olfaktorik spezialisierte.

Das motorische Zentrum des Kopfsegments entwickelte sich zu einem Neuronenkern, der als Amygdala bezeichnet wird.

Aus dem sensorischen Zentrum des Kopfsegments entstand in einem längeren Entwicklungsprozess der Hippocampus, der das olfaktorische Rotationsgedächtnis hervorbrachte. Dieses wird später beschrieben werden.

Bezüglich der körperlichen Form kann angenommen werden, dass sich die olfaktorischen Rezeptoren anfänglich auf kleinen Stielen befanden und somit etwas weiter in den zu analysierenden Raum hineinragten. Noch heute sind beispielsweise bei den Wirbeltieren die olfaktorischen Rezeptorflächen etwas exzentrisch und nach vorne ragend positioniert.

Wir erinnern uns an die Hypothese, dass das erste Segment sich auf die Olfaktorik spezialisierte. Das sensorische Zentrum des ersten Segments empfing direkt die Signale der olfaktorischen Rezeptoren. Die Kommissurneuronen übertrugen die Signale direkt an die abwärts projizierenden Konnektivneuronen.

Wir unterstellen, dass sich aus der ersten Etage der spätere Cortex bildete, während in der zweiten Etage die Thalamusstrukturen gebildet wurden. Dies ist im Einklang mit der Tatsache, dass das olfaktorische System direkt in den Cortex projiziert und seine Signale nicht den Weg über den Thalamus (oder einen seiner Kerne) nehmen.

Theorem der Spezialisierung des zweiten Segments auf visuelle Signale

Das zweite Segment spezialisierte sich auf visuelle Signale. Auf jeder Körperseite entstand ein Facettenauge, dessen Oberfläche konvex gekrümmt war, wodurch ein auf der zugehörigen Rezeptorenfläche, der späteren Netzhaut, ein aufrecht stehendes und seitenrichtiges Abbild der visuellen Objekte entstand.

Möglich ist, dass anfangs lichtempfindliche Zellen an der Spitze von kleinen Stielen links und rechts vorhanden waren, ähnlich den Stielaugen von Schnecken. Muskelgruppen konnten diese Stielaugen in verschiedene Richtungen abbiegen. Aus ihnen gingen (möglicherweise) die Augenmuskeln der Wirbeltiere hervor. Die Zahl der lichtempfindlichen Zellen nahm im Verlaufe der Evolution zu, es entstand eine Rezeptorenfläche, aus der die spätere Netzhaut hervorging. Der Stiel, auf dem die Augen saßen, führte die Axone der Lichtrezeptoren zum zweiten Segment, wo diese an den Neuronen des sensorischen Zentrums andockten. Dieser Grundaufbau kann begründen, warum die Augen moderner Wirbeltiere quasi extern und recht weit vom eigentlichen Gehirn angeordnet sind.

Theorem der Spezialisierung des dritten Segments auf vestibuläre Signale

Das dritte Segment spezialisierte sich auf vestibuläre Signale.

Der Vestibularsinn beruhte auf Haarzellen, die auf Abbiegen durch äußere Kräfte Aktionspotentiale generierten. Bereits bei den einfachsten Lebewesen waren diese Haarzellen in einem mit Flüssigkeit gefüllten Körperhohlraum, der Statocyste, anzutreffen, den sie auskleideten. Alle Tiere lebten damals im Wasser. Der Hohlraum war durch eine kleine Öffnung mit dem umgebenden Wasser verbunden. Durch ihn konnte ein kleines Sandkörnchen in diese Statocyste eindringen. Daher war die Statocyste recht nahe der Körperoberfläche angeordnet, teils ragte sie etwas heraus. Möglicherweise wurde der Eintrittskanal nach dem Eindringen eines Sandkorns verengt, so dass es nicht mehr herausfallen konnte.

Das Sandkörnchen befand sich frei beweglich in diesem Hohlraum und rollte unter dem Einfluss der Schwerkraft zur tiefsten Stelle. Dort führte sein Gewicht zur Abbiegung der darunter befindlichen Haarzelle, die daraufhin Aktionspotentiale generierte. Je nach Körperneigung antwortete jeweils eine andere Haarzelle. Ihre Signale erreichten das sensorische Zentrum und führten dort zur Erregung von zugehörigen Neuronen. Letztlich generierten sie Korrekturbewegungen des Lebewesens. 

Statocyste (Wirkprinzip)

Abbildung 3 - Statocyste (Wirkprinzip)

Interessierte Leser können sich im hervorragenden Fachbuch "Tierphysiologie" von Heldmaier, Neuweiler und Rössler [46] über den Gleichgewichtssinn näher informieren. Dort werden im Kapitel 14.4 die Statocystem der aquatischen wirbellosen Tiere und der Wirbeltiere beispielhaft vorgestellt und ihre neuronalen Netzwerke analysiert. Die vestibulär ausgelösten Korrekturbewegungen werden am Beispiel einer Meeresschnecke dargestellt. Dort heißt es auf Seite 605:

"Clione limacina ist eine winzige Flügelschnecke (Pteropoda), die zum Meeresplankton gehört. Sie steht mit dem Kopf nach oben senkrecht im Wasser und gleicht jede Abweichung von dieser vertikalen Position durch gegensteuernde Schwanz- (d.i. der Fuß der Schnecke) Bewegungen aus. Zwei Statocysten, deren Wand mit je 10 Haarzellen ausgekleidet ist, messen mit einem Statolithen Abweichungen von der vertikalen Körperposition. Diese beidseitige Lageinformation wird auf 20 spezifische Neurone im Cerebralganglion geschaltet. Sechs dieser Neurone innervieren Schwanzmotoneurone im Pedalganglion."

Beschrieben wird, wie dieses kleine Neuronennetzwerk samt Statocysten aus dem Tier herauspräpariert wurde und der Nachweis seiner Funktionsweise experimentell erfolgte.

Die nachfolgende Abbildung - angelehnt an die Darstellung im genannten Buch - verdeutlicht die Korrekturbewegungen dieser Flügelschnecke bei einer Abweichung von der Vertikalen. Wirkt eine äußere Kraft auf die Meeresschnecke ein und dreht sie um den Winkel ß, so verursachen die Vestibularsignale eine Schwanzkrümmung. Durch den Wasserwiderstand richtet sich die Schnecke daraufhin wieder senkrecht aus.

 

Vestibul�r ausgel�ste Korrekturbewegungen

Abbildung 4- Vestibulär ausgelöste Korrekturbewegungen

Wir bezeichnen diesen Vestibularsinn in dieser Monografie als Paläovestibularsinn. Er stellt die älteste Art dar, die Einwirkung des Schwerefeldes der Erde auf das Lebewesen mittels Rezeptoren zu analysieren.

Die meisten Leser werden sich unbesehen der Meinung anschließen, der Vestibularsinn diene der richtigen Ausrichtung des Körpers im Schwerefeld der Erde. Gewiss mag diese Ansicht korrekt erscheinen, insbesondere wenn sie den Menschen betrifft. Denn der aufrechte Gang wird als großer Fortschritt in der Evolution angesehen. Ohne einen funktionierenden Vestibularsinn ist das aufrechte Stehen, Gehen oder Laufen des Menschen fast unmöglich.

Dennoch ist der sehr frühe Vestibularsinn der einfachsten Lebewesen und auch der späteren wasserbewohnenden Wirbeltiere das Steuerungssystem für eine Fortbewegung im Wasser gewesen.

Denken wir uns nur einen Fisch mit Flossen, die der Lagekorrektur dienen. Neigte sich der Körper nach links, korrigierte etwa die rechte Flosse die Abweichung. Durch die vestibulär ausgelöste Flossenbewegung erhielt der Körper einen Drehimpuls und drehte sich um die Längsachse. Und diese Drehung kam nicht einfach so zum Stillstand, wenn der Körper die gewünschte Standardlage im Wasser erreichte. Dem Trägheitsgesetz folgend, drehte er sich weiter, denn die Reibung im Wasser nahm nur einen kleineren Teil der Drehimpulsenergie auf. So schoss die Korrekturbewegung über ihr Ziel hinaus. Dies wurde vom Vestibularsinn sofort erkannt und ein Korrektursignal losgeschickt. Dieses aktivierte die kontralaterale Flosse zu einer Korrekturbewegung. Aber auch diese schoss über das Ziel hinaus und bewirkte eine Korrekturbewegung in die umgekehrte Richtung. So pendelte der Körper zwischen diesen beiden Abweichungslagen hin und her.

Weil aber die Flossen am Körper befestigt waren (und aus anderen Gründen, die wir hier weglassen), erzeugte jede Flossenbewegung neben einer Drehkomponente immer auch eine Vortriebskomponente. Dadurch führten die oszillierenden Korrekturbewegungen zu einem Vortrieb im Wasser. Und dies zu einer Zeit, als es noch keine neuronalen Schrittmacher gab. Denn Letztere benötigen Komponenten, die es beim elementaren Bilateriasystem nicht gab.

Der Vestibularsinn war neben dem olfaktorischen Sinn einer der ersten Sinne und ermöglichte die Beweglichkeit der frühen, nicht sessilen Arten. Da es anfangs kein Gehirn gab, mussten Bewegungen durch irgendein Prinzip verursacht werden. Das Vestibularsystem konnte diese Leistung bereits sehr früh erbringen. Und diejenigen Arten, die neben einem Rumpf auch noch über paarige Seitenflossen verfügten, die von den Vestibularsignalen zur Lagekorrektur angesteuert wurden, gewannen den Wettbewerb um eine möglichst hohe Vortriebsgeschwindigkeit. Die paarigen Extremitäten der Vertebraten dienten von Anbeginn der Fortbewegung, und der Vestibularsinn erzeugte die Vortriebssignale.

Bilateral gebaute Lebewesen besitzen zwei Statocysten, je eine auf der linken und eine auf der rechten Körperseite. Wir unterstellen, dass bei der Entwicklung der segmentierten Bilateria die Statocysten nicht mehr in jedem Körpersegment benötigt wurden, da deren Signale mit denen des dritten Segmentes (fast) identisch waren. Eine Rückbildung wäre möglich gewesen, aber auch eine Modifizierung. Wir unterstellen, dass die Haarzellen in den Statocysten der nachfolgenden Segmente sich dahingehend veränderten, dass die Öffnung, durch die ein kleines Sandkörnchen eindringen konnte, im Verlaufe der Zeit größer wurde. Eventuell vorhandene Sandkörnchen fielen heraus, und die größer werdende Öffnung bekam direkten kontakt mit dem umgebenden Wasser, in dem diese Tiere lebten. Die Haarzellen reagierten nun bei Bewegungen des Tieres auf die Wasserströmung, die sich in diesen Hohlraum fortpflanzte. Der Hohlraum entwickelte eine kanalähnliche Form, um Strömungen besser an die Haarzellen weiterleiten zu können. So entstand (möglicherweise) das Seitenliniensystem, welches in fast allen Segmenten vorhanden war und die Entwicklung eines wichtigen Fernortungssinns ermöglichte.

Das Wirkprinzip der Statocysten im dritten Segment erfuhr im Verlaufe der Evolution einen grundlegenden Umbau, in dessen Folge das Vestibulocerebellum entstand. Erst damit begann die Linie der Wirbeltiere, deren neurologische Besonderheit der Besitz eines Cerebellums ist. Insofern könnte man alle Wirbeltiere ebenso als Cerebellumtiere bezeichnen.

Hinweis:

Wir gehen davon aus, dass es weitere Kopfsegmente gab, die sich auf bestimmte Rezeptorarten oder Signalarten spezialisierten. So gab es sicherlich ein Kopfsegment, welches der Steuerung der elementarsten Lebensvorgänge diente und dessen Segment den späteren Hypothalamus der künftigen Wirbeltiere enthielt. Dass dort auch visuelle Signale mit ausgewertet wurden, zeigt der Nucleus suprachiasmaticus, der als zeitlicher Taktgeber wirkt. Wir beschränken uns in dieser Arbeit auf eine Auswahl von Modalitäten.

Theorem der Existenz eines Segmentes mit einem zweiten Augenpaar 

Unterhalb des vestibulären Segments existierte mindestens ein weiteres, sekundäres Segment mit einem weiteren Augenpaar.

Viele segmentierte Tiere haben mehrere Segmente, die über Augen verfügen. Möglicherweise erfolgte bei den Tieren, deren Linie zu den Wirbeltieren führte, eine Verschmelzung und Reduktion, so dass nur noch ein weiteres Segment über ein Augenpaar verfügte. Dieses war zwingend nach dem vestibulären Segment angeordnet und verfügte nur über zwei Facettenaugen, während sich die primären Augen des zweiten Segmentes zu Linsenaugen entwickeln mussten. Die Beweisführung erfolgt schrittweise in den nachfolgenden Abschnitten.

Hinweis:

Die an verschiedenen Segmenten angeordneten Augenpaare wurden in die Mittelwertsysteme der betreffenden Segmente einbezogen. Letztere dienten in verschiedenen Segmenten oft anderen Aufgaben, speziell bei den Kopfsegmenten. Aus den sekundären Augen des sechsten Segments gingen bei den niederen Wirbeltieren die Parietalaugen hervor, die vor allem der Ermittlung der mittleren Helligkeit dienten. Sie waren in das Mittelwertsystem der hypothalamischen Region einbezogen und versorgten beispielsweise den Nucleus suprachiasmaticus, der als circadianer Taktgeber fungiert, mit den nötigen visuellen Mittelwertsignalen. Bei höheren Wirbeltieren erfolgte auch hier eine Reduktion, allerdings unter Beibehaltung der Primärfunktion.

Neben einer Spezialisierung der Segmente hinsichtlich der sensorischen Modalitäten war auch eine weitere Spezialisierung zu beobachten. Während anfänglich alle Segmente (mit Ausnahme des Kopf- und des Schwanzsegments) prinzipiell identisch waren und über die gleiche Ausstattung an urtümlichen Organen wie etwa Herz oder Nieren verfügten, änderte sich dies im Verlaufe der Evolution. Letztlich gab es nur noch ein Herz, einen Magen, zwei Nieren usw.



Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan