Gehirntheorie der Wirbeltiere

ISBN 978-3-00-064888-5

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

3.9  Der Umbau des Vestibularsinnes und die Entstehung des Cerebellums

Der Vestibularsinn erfuhr im Verlauf der Evolution konstruktive Veränderungen. Seine früheste Form bezeichnen wir in dieser Monografie als Paläovestibularsinn.

Der Paläovestibularsinn war mechanisch und konstruktiv nicht die beste Lösung.

Ein Nachteil für den Vestibularsinn war seine Abhängigkeit vom zufälligen Vorhandensein eines Sandkorns in der Vestibularhöhle. Durch die Bewegungen des Sandkorns nutzten sich zudem die Haarzellen ab. Diese Nachteile führten zu einer evolutionären Umgestaltung des Vestibularsinnes.

Es bildete sich eine gallertige Schutzschicht, in die die Haarzellen eingebettet wurden, um sie zu schützen und ihre Lebensdauer zu verlängern. Das herumrollende Sandkorn wurde ersetzt durch ortsfeste, kleine kristalline Absonderungen (Statokonien) auf der gallertigen Masse, die vom Lebewesen selbst gebildet wurden. So entstand der Neovestibularsinn.

Die selbsterzeugten Statokonien waren nunmehr etwa gleichmäßig auf der Gallerte verteilt. Durch ihr Eigengewicht belasteten sie die in der Nähe befindlichen Haarzellen. Die an der tiefsten Stelle der Vestibularhöhle befindlichen Haarzellen wurden jedoch nur geringfügig abgebogen und waren daher am wenigsten erregt.

Haarzellentheorem des Neovestibularsinnes

Die Haarzellen des Neovestibularsinnes sind vergleichbar mit fest eingespannten elastischen Blattfedern, an deren oberem Ende ein kleines Gewicht (die Statokonie) befestigt ist. Ihr Neigungswinkel hängt von ihrem Ort in der Vestibularhöhle ab. Je stärker die Blattfeder gegen die Vertikale geneigt ist, desto stärker ist der Biegewinkel. Dieser wird von der Haarzelle in eine Folge von Aktionspotentialen umgesetzt. Je größer der Biegewinkel, umso höher die Feuerrate.

Die Vestibularhöhle bildete einen Hohlraum. Diejenige Haarzelle, die sich an der tiefsten Stelle des Hohlraums befand, wurde am geringsten aus ihrer Normallage abgeschert. Das geringe Gewicht der Statokonie bewirkte nur eine vernachlässigbare Verbiegung.

Alle übrigen Haarzellen wurden aufgrund der Abweichung von der Vertikalen durch das Gewicht der mit ihnen verbundenen Statokonien umso stärker erregt, je größer die Abweichung war. Vergleichbar ist dies mit der Auslenkung einer Blattfeder, die an ihrem oberen Ende mit einem kleinen Gewicht belastet ist. Ihre Verbiegung ist am geringsten, wenn sie genau senkrecht steht, wobei das Gewicht nicht zu groß sein darf. Mit zunehmendem Neigungswinkel wird die Verbiegung größer. Das Gewicht der Statokonie bewirkt über den langen Hebelarm eine beträchtliche Abbiegung der Haarzelle, wenn deren Ausrichtung stärker von der Vertikalen abweicht.

Dieses derart umgebaute Vestibularsystem bezeichnen wir als Neovestibularsinn. Der Neovestibularsinn war minimumcodiert. Diejenige Haarzelle, deren Feuerrate ein Minimum aufwies, codierte die aktuelle Winkelabweichung des Vestibularsystems von der Senkrechten.

Der Umbau des Vestibularsinnes setzte nicht plötzlich ein, er wird sich sukzessive über sehr viele Generationen hinweg herausgebildet haben. Im Laufe der Jahrmillionen kamen weitere Spezialisierungen der Haarzellen hinzu, die die Signalauswertung modifizierten.

Wir gehen davon aus, dass beim Umbau des Vestibularsinnes alle bisherigen Nervenzellen und ihrer Axone erhalten blieben und sich die neuronale Schaltung zunächst nicht wesentlich veränderte.

Mit dem Übergang vom Paläovestibularsinn zum Neovestibularsinn wurde mit der bisherigen Signalauswertung das Gegenteil der gewünschten Lagekorrektur erreicht. Denn das bisherige Signalmaximum war beim Umbau des Vestibularsinns durch ein Signalminimum ersetzt worden, der maximumcodierte Paläovestibularsinn somit zum minimumcodierten Neovestibularsinn umgestaltet worden. Das Signalminimum reichte zu einer effektiven Ansteuerung von Muskeln nicht aus, denn ein Muskel benötigt ein starkes Erregungssignal. Ein Nullsignal hat keinerlei Wirkung, und ein sehr schwaches ebenfalls fast keine.

Theorem der Codierungsarten des Vestibularsinnes

Der Paläovestibularsinn war maximumcodiert. Die Haarzelle, deren Feuerrate am höchsten war, befand sich an der tiefsten Stelle der Vestibularhöhle. Ihr Outputsignal steuerte - unter Zwischenschaltung der kontralateralen Signalspiegelung in der Kreuzungsetage - die Motoneuronen der Muskeln an, die eine Korrekturbewegung einleiteten.

Der Neovestibularsinn war minimumcodiert. Die Haarzelle, deren Feuerrate am geringsten war, befand sich an der tiefsten Stelle der Vestibularhöhle. Sie war jedoch nicht in der Lage, eine Muskelbewegung zu generieren, dazu war das Outputsignal zu schwach. Die Outputsignale der übrigen Haarzellen waren stärker, jedoch zogen ihre Axone - unter Zwischenschaltung weiterer Projektionsneuronen zu Motoneuronen, deren Aktivierung die Abweichung von der Normallage noch vergrößert. Die einzige Haarzelle, die über Axone und Zwischenneuronen mit dem Motoneuron des richtigen Muskels verbunden war, blieb beim Neovestibularsinn unerregt, statt wie bisher maximal zu feuern.

In der folgenden Abbildung sieht man zunächst den minimumcodierten Output des Neovestibularsinnes. Das Minimum codiert den Neigungswinkel des Lebewesens. Ändert sich die Körperhaltung, wandert das Minimum an eine neue Stelle:

Neuronale Erregung des minimumcodierten Vestibularsinns

Abbildung 12- Neuronale Erregung des minimumcodierten Vestibularsinns

Diese Codierungsform ist unbrauchbar. Spiegelt man die Funktion dagegen an einer waagerechten Ebene, die etwa in der Höhe des Mittelwertes der Funktion verläuft, entsteht eine brauchbare Signalversion, wie nachfolgende Abbildung zeigt. Eine solche Transformation bezeichnen wir als Signalinversion.

 Invertierter Output des Neovestibularsinns -maximumcodiert

Abbildung  13 - Invertierter Output des Neovestibularsinns -maximumcodiert

Aus dem unbrauchbaren Signalminimum wird durch Inversion ein brauchbares Signalmaximum. Die Natur erwies sich als fähig, eine solche Signalinversion über eine spezielle neuronale Schaltung zu realisieren. Eine solche Schaltung bezeichnen wir als Inversionsschaltung .

Die Notwendigkeit, die minimumcodierten Signale des Neovestibularsinnes in eine maximumcodierte Form zu transformieren, führte zur Entwicklung des Vestibulocerebellums  und des lateralen Vestibularkernes. Dies wird im folgenden Kapitel aufgezeigt.


Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan