Gehirntheorie der Wirbeltiere

ISBN 978-3-00-064888-5

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

4  Die Auswirkungen der Signaldivergenz im Cerebellumsystem

Das urtümliche Spinocerebellum gehört zum kontralateralen Teilsystem, die ipsilateralen Signale erreichen über den Nucleus ruber und den Nucleus olivaris die Gegenseite. Wir analysieren in diesem Kapitel die Folgen der Redundanz in diesem System.

Redundanz tritt auf, wenn Signale vor Erreichung ihrer Zielstruktur divergent auf mehrere, oft sogar viele Signalwege verteilt werden, so dass der Ausfall einzelner Signalwege keine nachteiligen Folgen hat. Natürlich müssen diese Signale vor dem Erreichen der Zielstruktur in einer Konvergenzstruktur zusammengefasst werden.

Sowohl die Signaldivergenz als auch die anschließende Signalkonvergenz unterliegen hierbei gewissen Naturgesetzen, da sie meist in Neuronenkernen bzw. Neuronenschichten realisiert werden, die der grauen Substanz des Nervensystems angehören. Das Fehlen von Myelin in diesen Strukturen bewirkt eine abstandsabhängige Dämpfung der Signale, was zum Auftreten äußerst interessanter und wichtiger Phänomene führt. In dieser Monografie wird aufgezeigt, dass die Wirbeltiere ihre Intelligenz genau diesen Phänomenen verdanken. Hierbei untersucht dieses Kapitel die Auswirkungen der Redundanz im kontralateralen System, dessen markanteste Struktur das Spinocerebellum ist. In der älteren Literatur wird dieses System auch als extrapyramidales System bezeichnet.

4.1   Das Rechnen mit neuronalen Signalen

Bisher verwendeten wir den Begriff der Feuerrate in einer volkstümlichen Art. Zwar war uns klar, dass die Feuerrate eine Signalstärke repräsentiert und mit der Signalstärke auch die Feuerrate zunimmt. Doch nun versuchen wir eine Präzisierung. Wenn wir zeigen wollen, dass das Wirbeltiergehirn mit Signalen rechnet, dass es unterschiedliche Signalformen gibt, und dass diese durch mathematische Transformationen ineinander überführt werden, dann müssen wir den Begriff der Feuerrate auch mathematisch deuten.

Feuerraten entstehen primär durch die Aktivitäten von Rezeptoren, die auf zugehörige Ganglienzellen einwirken. Wir betrachten nun die Zusammenhänge zwischen der Signalstärke und der Feuerrate.

Definition: Urgröße, Ursignal

Eine messbare Größe u, deren Messwerte in einem Messintervall Formel liegen, bezeichnen wir als Urgröße, wenn Rezeptoren diese Größe in eine Feuerrate f transformieren. Wir ordnen der Größe u eine eigene Modalität zu. Jeder konkrete Wert der Größe u wird als Ursignal bezeichnet. Die zu diesem Wert gehörende Feuerrate bezeichnen wir als neuronales Signal der Größe, die Funktion f = f(u) ist die Signalfunktion der Größe u.

Die meisten Urgrößen sind stetige Funktionen. Wir beschränken unsere Betrachtung daher auf diese Funktionenklasse, ohne ständig darauf hinzuweisen.

Definition On-Signal, Off-Signal

Ist die stetige Signalfunktion f = f(u) streng monoton wachsend, so bezeichnen wir das Signal als On-Signal. Ist sie streng monoton fallend, so liegt ein Off-Signal vor.

Theorem des exponentiellen Zusammenhanges zwischen Urgröße und neuronalem Signal in der Motorik

Die Signalfunktion f = f(u), die den Zusammenhang zwischen der Signalstärke einer stetigen Urgröße und der aus ihr gewonnenen Feuerrate f in der Motorik beschreibt, ist (näherungsweise) exponentiell. Ist f1 die Feuerrate im linken Intervallende, also f1 = f (u1) und f2 die Feuerrate am rechten Intervallende, also f2 = f (u2), so gilt für On-Signale die Gleichung

Feuerrate für On-Signale

und für Off-Signale

Feuerrate für Off-Signale,

 

hierbei ist k eigenständige Konstante, die für jede Modalität einen anderen Wert annehmen kann.

Eine Signalfunktion kann als Abbildung eines Ursignalintervalls <u1, u2> auf ein Feuerratenintervall <f1, f2> interpretiert werden.

Theorem der Abbildung eines Ursignalintervalls auf ein Feuerratenintervall

Jede exponentielle On-Signalfunktion erzeugt eine eineindeutige und stetige Abbildung des UrsignalintervallsUrgrößenintervall u1 bis u2 mit

 

Formel für den Mittelpunkt eines Intervalls     und       Feuerrate im Intervallmittelpunkt

 

auf ein Feuerratenintervall   Feuerratenintervall von f1 bis f2 gemäß

 

Formel für die Feuerrate in einem Intervallpunkt           und       Formel für die Urgrüße u zu einer Feuerrate f.

 

Jede exponentielle Off-Signalfunktion erzeugt eine eineindeutige und stetige Abbildung des Ursignalintervalls  Ursignalintervall u1 bis u2 auf ein Feuerratenintervall Feuerrateninervall f1 bis f2 gemäß

 

Formel für Feuerrate f      und       Formel für Urgröße u.

Durch diese eineindeutige Abbildung beider Intervalle ist es uns relativ leicht möglich, von der Feuerrate auf die Urgröße zu schließen. Ist die Urgröße beispielsweise die Lichtfrequenz in einem Frequenzintervall, so repräsentiert die Feuerrate letztendlich eine Farbe, weil jeder Lichtfrequenz des sichtbaren Lichtes eindeutig eine Farbe zugeordnet werden kann. Die genaueren Hintergründe des Farbsehens werden am Ende dieses Kapitels beschrieben werden.

Theorem des neuronalen Mittelwertes

Ist eine On-Signalfunktion f= f(u) im Intervall  Urgrößenintervall u1 bis u2 definiert und

Formel für um, den mittleren Wert der Urgröße, und ist  zugehörige Signalmittelwert im Intervall, 

so gilt

Formel für die Feuerrate in Abhängigkeit von der Urgröße.              (Gültig für On-Funktionen)

 

Für eine Off-Signalfunktion gilt analog

Formel für die inverse Feuerrate in Abhängigkeit von der Urgröße.         (Gültig für Off-Funktionen)

Die Bedeutung des Feuerraten-Mittelwertes wird in diesem Kapitel besonders deutlich werden. Interessant ist auch der Zusammenhang zwischen einem Signal und seinem invertierten Signal.

Die maximal erreichbare Feuerrate von Projektionsneuronen ist nach oben begrenzt, wir können sie als Konstante betrachten. Dann sind auch (fast) alle Modalitäten signaltechnisch untereinander kompatibel.

Theorem der Kompatibilität der Modalitäten mit streng monotonen Signalfunktionen

Die Intervalle der verschiedenen Urgrößen mit streng monotonen Signalfunktionen, denen verschiedene Modalitäten entsprechen, bilden die Urintervalle alle auf das gleiche Feuerratenintervall <0; fmax> ab, wobei fmax die maximal erreichbare Feuerrate der beteiligten Projektionsneuronen darstellt und eine Art technische Konstante ist.

Jeder Feuerrate könnte also umgekehrt der Wert jeder beliebigen Urgröße zugeordnet werden, wenn nur eine geeignete Rezeptorenart existiert, die diese Urgröße in eine Feuerrate transformiert. Für Signalfunktionen, die nicht streng monoton sind, trifft dies natürlich nicht zu. Ist die Urgröße unstetig oder gar diskret, treffen diese Aussagen ebenfalls nicht zu.

Theorem des Quotienten aus einem Signal und seinem invertierten Signal

Aus der Gleichung  Formel für das Produkt aus Feuerrate und inverser Feuerrate nach (18.3.4) folgt für den Zusammenhang zwischen einem Signal und seinem invertierten Signal

 die Gleichung

Formel für den Quotienten aus Feuerrate und inverser Feuerrate.                         (2.1.3)

Viele Rezeptorenarten haben eine zusammengesetzte Kennlinie, die teils streng monoton steigend ist, bis sie einen Resonanzpunkt erreicht, an dem die Feuerrate maximal wird, um dann bei weiterer Vergrößerung der Urgröße wieder streng monoton zu fallen. Wir bezeichnen solche Rezeptoren als Resonanzpunktrezeptoren. Deren Kennlinie ähnelt einer Gaußschen Glockenkurve und wird annähernd durch eine Kombination aus zwei Exponentialfunktionen beschrieben. So nimmt etwa die Feuerrate derjenigen Ganglienzellen der Retina, die das Signal Rot bilden, mit der linksseitigen Annäherung der Lichtfrequenz an die Frequenz des roten Lichtes zu, bei weiterer Erhöhung der Lichtfrequenz jedoch wieder ab. Das Resonanzmaximum wird also bei Rot erreicht, und die Feuerrate nimmt bei einer Abweichung sowohl nach links als auch nach rechts gleichermaßen ab. Daher existiert keine eindeutige Zuordnung zwischen Lichtfrequenz und Feuerrate. Die Natur löste dieses Mehrdeutigkeitsproblem durch die Entwicklung alternativer Sehfarbstoffe, die beispielsweise ein Resonanzmaximum bei anderen Lichtfrequenzen besitzen, etwa bei der Farbe Grün oder Blau. Dies wird in dieser Monografie später analysiert werden.

Theorem der Feuerrate von Resonanzpunktrezeptoren

Ist um der Resonanzpunkt eines Rezeptors, so kann die Signalfunktion (näherungsweise) beschrieben werden durch die Gleichung

Formel für die Feuerrate eines Resonanzpunktrezeptors            (2.1.6)

Die Gleichung

                    Formel für die Urgröße eines Rezeptors mit Resonanzpunkt                     (2.1.7)

Ermöglicht die Berechnung des Urwertes aus den Funktionswerten der Signalfunktion.

Anstelle der Urgröße u wird in die Gleichungen der Betrag |u| der Urgröße eingesetzt. Die Signalfunktion wird dadurch symmetrisch zum Mittelpunkt um, an dem die Funktion den Wert fm annimmt.

Beispiele für solche Rezeptoren sind die Thermorezeptoren oder die Stäbchen für das Farbsehen. Bei Rezeptoren mit Resonanzpunkt fällt die eindeutige Projektion des Urwertes auf den Signalwert weg. Gleiche Feuerrate bedeutet hier unter Umständen unterschiedliche Urwerte, da symmetrisch zum Mittelpunkt um gelegene Urwerte stets die gleiche Feuerrate liefern.

Zur Beseitigung dieser Mehrdeutigkeit hat sich eine spezielle Art der Signaltransformation durchgesetzt, die die Fähigkeit des Spinocerebellums ausnutzt, Signalwerte zu invertieren.

Dies wird nachfolgend näher erläutert.

In dieser Monografie wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen der exponentiellen Empfindlichkeitskennlinie von Rezeptoren und der exponentiellen Dämpfung von neuronalen Erregungen, die sich auf marklosen Axonen ausbreiten. Letzteres wird durch die Kabelgleichung für marklose Fasern beschrieben.


Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan