Gehirntheorie der Wirbeltiere

ISBN 978-3-00-064888-5

Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan

7.3  Die Helligkeitsanalyse im Cerebellum

Neben dem Tectum verarbeitete auch ein zweites System visuelle Signale. Dies war das Cerebellum. Und auch dieses sandte seine Outputsignale zum Tectum zurück, jedoch erreichte eine Efferenzkopie der Signale ebenfalls den Cortex. Und als sich der Signalumfang durch die Entstehung des Farbkanals Rot-Grün erweiterte, erhielt auch das Cerebellum diese neuen Signale. Während das CGL diese Farbsignale (wahrscheinlich) zum Tectum zurückschickte, damit dort ebenfalls eine Rot-Grün-Differenzabbildung für die motorische Steuerung entstehen konnte, wurde der Output der cerebellaren Farbsignalauswertung (über den Thalamus) dem visuellen Cortex zugeführt.

Aber auch das limbische System könnte denjenigen Output vom Temporallappen zum primären visuellen Cortex senden, der aus der Verarbeitung visueller Signale hervorging. Dies wird nachfolgend beschrieben werden.

In all diesen Fällen müsste ein Signalaustausch zwischen dem frontalen Cortex und dem visuellen Cortex stattfinden. Die Signale müssten also zwischen den einzelnen Lobi ausgetauscht werden. Die Existenz ungezählter intracortikaler Verbindungen zwischen den einzelnen Lobi des Wirbeltiergehirns ist ja bereits lange bekannt, hier wäre ein Beispiel für eine Interpretation der Aufgabe solcher Signalverbindungen.

Wie Brayn Kolb und Ian Q. Whishaw in ihrer -Neuropsychologie- erwähnen, zeigten Experimente von Nakamura und seinen Mitarbeitern, dass bei Entfernung des anterioren Cortex, also auch des Frontallappens von den visuellen Arealen eine visuelle Blindheit auftrat. Einzelableitungen zeigten jedoch noch die Aktivität der Neuronen in der visuellen Region. Obwohl das visuelle System funktionierte, waren die Tiere chronisch blind. Daher postuliert auch der Autor die Existenz visueller Signalverarbeitung im Frontallappen und seinen Inputlieferanten, vor allem des Cerebellums.

Wir wollen nun analysieren, was mit den Hell-Dunkel-Signalen geschieht, die vom Tectum über den Tractus tectoolivaris den Nucleus olivaris erreichten.

Wir wissen, dass es zu jedem Bildpunkt eines jeden Auges ein Hell-On-Signal und ein Dunkel-On-Signal gibt, beide Signalarten sind invers zueinander. Eine neue Information kann nur gewonnen werden, wenn wir jeweils inverse Signalarten miteinander kombinieren. Wir unterstellen also hypothetisch, dass im Nucleus olivaris die visuellen Helligkeitssignale generell paarweise ausgewertet werden. Je ein ipsilaterales Hell-On-Signal möge mit seinem zugehörigen ipsilateralen Dunkel-On-Signal ausgewertet werden. Beide Signale gehören generell zum gleichen Bildpunkt, besitzen aber inverse Informationsgehalte. Während das Hell-On-Signal mit wachsender Helligkeit eine höhere Feuerrate aufweist, besitzt das Dunkel-On-Signal die entgegengesetzte Tendenz und feuert mit wachsender Dunkelheit stärker. Dieses Signalpaar erreiche also für jeden Bildpunkt den Nucleus olivaris.

Denken wir uns den visuellen Teil des Nucleus olivaris für die Helligkeitsanalyse durch äquidistante waagerechte und senkrechte Linien gitterförmig eingeteilt. In den Gitterpunkten befinden sich alternierend die Neurone für das Hell-On-Signal und das Dunkel-On-Signal. Dieses war der Anfangszustand vor dem Beginn der Signaldivergenz. Ein Ausfall eines oder mehrerer Neuronen führte hier zu Sehfeldausfällen aus der betreffenden Seite.

Wir können wieder davon ausgehen, dass das Prinzip der Signaldivergenz zur Redundanzerhöhung angewendet wurde. Dann hatte der Ausfall einzelner Neuronen keine so gravierende Wirkung. Daher bildeten sich zwischen den paarweise angeordneten Neuronen zusätzliche Projektionsneuronen, die ihren Input von diesen beiden zugeordneten Inputneuronen erhielten. Das anfänglich quadratische Gitter wurde dadurch rechteckförmig. Wir nehmen eine Ausdehnung in horizontaler Richtung an. Aus den Quadraten wurden breite Rechtecke. Zwischen den zwei Inputneuronen des Signalpaares übernahmen dutzende oder hunderte Projektionsneuronen die Signalweiterleitung. So wurde eine hohe Ausfallsicherheit geschaffen. Und wie immer trat eine abstandsabhängige Dämpfung auf, die der Kabelgleichung für marklose Fasern genügte. Denn der Nucleus olivaris war ein markloser Kern, lediglich seine Projektionsaxone, die Kletterfasern, besaßen eine Myelinschicht.

So gab es zu diesem Signalpaar etliche Kletterfasern, die nebeneinander lagen wie ein Flachbandkabel. Und innerhalb dieses Axonstranges gab es wieder ein Signalminimum. War das Hell-On-Signal eines Bildpunktes eines Auges genauso stark wie das Dunkel-On-Signal des gleichen Bildpunktes des gleichen Auges, so befand sich das Erregungsminimum genau in der Mitte zwischen beiden Inputleitungen. Feuerte dagegen das Hell-On-Signal stärker, verschob sich das Erregungsminimum zum Dunkel-On-Signal. Eine höhere Feuerrate des Dunkel-On-Signals hatte eine Minimumwanderung in Richtung des Hell-On-Signals zur Folge. Das auftretende Erregungsminimum codierte also das Feuerratenverhältnis zwischen dem Hell-On-Signal und dem Dunkel-On-Signal des gleichen Bildpunktes. Aber dieses Signalstärkeverhältnis bedeutet einen Helligkeitswert. Somit konnte der Nucleus olivaris den relativen Helligkeitswert des betreffenden Bildpunktes des gemeinsamen Sehfeldes minimumcodiert an das Spinocerebellum weiterleiten.

Die Signalinversion, die im Spinocerebellum die Hauptaufgabe darstellte, überführte dieses minimumcodierte Helligkeitssignal in ein maximumcodiertes Helligkeitssignal. Im nachfolgenden Thalamus erfolgte durch die rezeptive Nachbarhemmung die Unterdrückung der schwächeren Komponenten, so ergab sich eine spärliche Codierung. Daher konnten die Wirbeltiere nun nicht nur die Farben Weiß oder Schwarz erkennen, sondern auch die Farbe Grau in all ihren verschiedenen Helligkeitsvarianten. So wurde dem Licht eine Information abgerungen, die für das weitere Überleben der Wirbeltiere von großem Vorteil war. Zu jedem Bildpunkt des Sehfeldes gab es nun idealerweise einen Signalvektor, der an einer Position eine hohe Feuerrate aufwies, an den übrigen Positionen jedoch die Feuerrate Null aufwies. Und die Maximalposition codierte den Helligkeitswert des Bildpunktes.

Mit der späteren Entwicklung der Farbrezeptoren für das Farbspektrum Rot-Grün und Blau kam eine analoge Fähigkeit zum Tragen, die zum Farbsehen führte. Ein einfaches Farbsehen war ja unter Mitwirkung der vertikalen Divergenzgitter der Amygdala und ihrer Inversionssysteme bereits in grauer Urzeit entstanden.


Monografie von Dr. rer. nat. Andreas Heinrich Malczan